Täglicher Besuch



Aus irgendeinem mir nicht bekannten Grund habe ich einen Hang zu fröhlicheren Geschichten. Das ist mit Sicherheit meiner positiven Lebenseinstellung zu verdanken. Aber natürlich ist das auch für andere normal, denn ich bin mir sicher, das geht wohl fast jedem so.

Meist sind es ja die skurrilen Eigenheiten der Fahrgäste, die mich zu meinen Anekdoten animieren. Und skurril ist in der Regel witzig. Und witzig ist gut. Gut.

Und eigentlich ist es ja auch logisch, dass das so ist. Denn wenn man mal aktuelle Nachrichten schaut, dann kann einem teilweise richtig das Lachen vergehen. Frei nach dem Motto 'Only bad News are good News' (Nur schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten), dem viel benutzten und wohl auch wahren Leitspruch des Sensationsjournalismus, werden uns dort tagtäglich fast nur schreckliche Botschaften aus aller Welt überbracht: Krieg und Zerstörung, Wetterkapriolen und Hungersnöte, Mord und Missbrauch wird uns da stets präsentiert. Dazu ist das Internet voll von verschwörerischen Thesen und Themen. Und wenn man einen leicht beeinflussbaren Geist hat, dann kann man durchaus in eine negative Spirale geraten. Nichts ist mehr gut, angeblich wird uns nichts und niemand mehr aus dem tiefen Sumpf befreien können, der uns gnadenlos immer weiter hinabzieht. Trübe Aussichten. Meinen viele.

Dabei vergessen deren Verbreiter, und schon immer hat das die Geschichte gezeigt, dass der gesunde Menschenverstand und die Vernunft am Ende trotz allem die Oberhand behalten werden.

Und so hat eine Fahrgast:in … oder Fahrgästin? … ach du liebe Güte, ich habe tatsächlich überhaupt keine Ahnung, wie man einen weiblichen Fahrgast nennt … oh, oh … ach egal, ich benutze jetzt einfach 'Fahrgästin' in meinen Episoden.
Na ja, auf jeden Fall hat sie auf ihre ganz eigene Art und Weise sogar den Tod überlistet.

Hier ist ihre kleine Geschichte:

Es gibt Linien bei uns in Nürnberg, die führen einen im Kreis herum. Da fühlt man sich wie in einem Hamsterrad. Aber die meisten bringen die Fahrgäste entweder in die eine und wie selbstverständlich auch wieder in die entgegengesetzte Richtung.

Es ist Freitagmorgen, etwa zehn Uhr, als mich eine ältere Frau beim Betreten des Busses durch die erste Tür freundlich anschaut und grüßt.

»Grüß Gott«, sagt sie und lächelt mich unter ihrer Maske an. Ich kann das genau erkennen. Die Lachfältchen in Ihren Augenwinkeln sprechen eine beredte Sprache.

»Guten Morgen«, antworte ich und gebe ihr ein Lächeln zurück.

Sie setzt sich auf den ersten Platz beobachtet mich. Die ein oder andere Haltestelle fliegt vorbei.

»Ich habe sie hier noch nie gesehen«, stellt sie mit einem Mal und einem feinen Stirnrunzeln fest.

»Das kann schon sein«, gebe ich ihr bereitwillig Auskunft, »wir Busfahrer sind ja in ganz Nürnberg unterwegs und ich weiß überhaupt nicht, wann ich diese Linie das letzte mal um diese Zeit gefahren bin. Und OB überhaupt.«

»Ach so«, stutzt sie kurz, »also ich fahre hier fast jeden Tag. Und immer um diese Zeit herum.«.

Ich merke, dass sie gerne eine kleine Unterhaltung anfangen möchte. Aber da muss ich gerade leider passen, denn der Verkehr lässt es nicht länger zu. Er fordert einfach zu viel Aufmerksamkeit von mir. Ich habe auf der entgegenkommenden Spur jede Menge Gegenverkehr. Dicht an dicht folgt ein Auto auf das andere in einer schmalen Straße im Nürnberger Süden mit vielen parkenden Autos am Straßenrand. Danach muss ich fast rechtwinklig nach rechts abbiegen. Das gleiche noch einmal nur hundert Meter weiter nach links. Eine Haltestelle bedienen. Dann erneut scharf nach rechts, unter einer schmalen Eisenbahnbrücke hindurch und direkt im Anschluss noch einmal hart nach links abbiegen. Puh … nun geht es wieder einigermaßen geradeaus.

Und da steht sie neben mir und möchte an der kommenden Haltestelle aussteigen. Gerade jetzt, wo ich etwas Zeit gehabt hätte. Na ja, das nächste Mal.
»Ich steige hier aus«, verkündet sie, »ich muss ein paar Besorgungen machen.« Sagt es und verlässt den Bus wieder durch die vordere Tür.

»Ich wünsche ihnen einen angenehmen Tag«, werfe ich ihr noch hinterher, aber ich habe nebenbei sehr schnell auf den Türschließ-Knopf gedrückt. Ob sie es wohl gehört hat? Sie nickt mir, während ich losfahre, ein letztes Mal zu und dann verliere ich sie im Gewirr der ausgestiegenen Menschen aus den Augen.

Ich beende diese Strecke ein paar Minuten später am nächsten Knotenpunkt 'Gustav-Adolf-Straße' und habe etwas Aufenthalt. Dann trete ich die Rückfahrt an.

Als ich an derselben Haltestelle, an der die Frau ausgestiegen war, vorbeikomme, steht sie wieder da und wartet auf mich. Eine Stofftasche in der einen Hand begrüßt sie mich winkend mit der anderen und strahlend steigt sie einmal mehr vorne ein und besetzt erneut den vordersten Platz, der heute seltsamerweise dauernd leer ist.

»So sieht man sich wieder«, heiße ich sie neuerlich in meinem Fahrgerät willkommen.

»Ja, so geht das Leben«, sagt sie sinnierend. »Ich habe Batterien und Grabkerzen gebraucht.« Eben noch fröhlich, wirkt sie von einem Moment auf den anderen etwas nachdenklich. »Und ich fahre jetzt bis zum Friedhof mit ihnen durch.«

Ach deshalb, denke ich mir und frage relativ unbekümmert nach: »Gehen sie wohl zum Grab ihres Gatten?«

»Ja«, sagt sie und fährt in einer Mischung aus Pflichtgefühl und Enttäuschung fort. »Ich kümmere mich um alles. Das Grab soll doch immer schön gepflegt sein.« Eine kleine Denkpause folgt. »Unsere Kinder bemühen sich ja nicht. Die machen gar nichts«, lässt sie mich in diesem Moment ganz tief in ihr Herz schauen. Sie wirkt jetzt etwas traurig, aber mit einer Frage lenkt sie davon ab. »Leben ihre Eltern noch?«

»Ja«, antworte ich, »Beide. Sie sind zwar schon fast neunzig, aber noch gut beieinander. Es zwickt mal hier und mal da. Grundsätzlich ist aber alles okay.«

»Und kommen sie gut miteinander klar?« Die Frage ist entwaffnend interessiert.

»Ja, recht gut. Ich unterstütze sie, wo ich kann«, erkläre ich mit einem Schmunzeln, »aber nur, wenn es sein muss. Die beiden sind noch sehr agil und wissen sich meist selbst zu helfen.« Und einen kleinen Moment später ergänze ich: »Wir stehen uns zwar gedanklich sehr nahe und trotzdem lässt jeder den anderen sein Leben leben.«

»Das ist gut, das ist gut.« Ich habe das ungute Gefühl, dass sie sehr einsam ist.

»Und ihnen geht es sonst so weit gut?«, erkundige ich mich.

»Na ja. Es passt schon«, meint sie, »ich gehe ja jeden Tag zum Friedhof und unterhalte mich mit meinem Mann.«

»Jeden Tag?«, das erstaunt mich schon sehr, »sie gehen wirklich jeden Tag zu ihrem Gatten auf den Friedhof?«

»Jeden Tag«, bestätigt sie ohne Umschweife, »Ich erzähle ihm das neueste vom Tag. Was so alles in der Welt passiert. Corona und so. Sie wissen schon. Und natürlich, was unsere Kinder so treiben.«

Ich traue mich nun, vorsichtig nachzuhaken: »Darf ich fragen, wann ihr Gatte verstorben ist?«

»Vor vier Jahren,« stellt sie sinnierend fest, »Ja, ziemlich genau vor vier Jahren … warten sie … vier Jahre und vierzehn Tage sind heute exakt.« Sie überlegt kurz: »Aber für mich ist er immer noch da. Ich kann ja jeden Tag zu ihm gehen und mich mit ihm unterhalten.«

Das bereitet mir jetzt echt vor einige gedankliche Probleme:

Kann sie nicht loslassen?

Oder will sie es vielleicht gar nicht?

Oder hilft ihr der Austausch mit ihrem Mann sogar über ihre Trauer hinweg?

Ist denn wirklich niemand da, der sie ein wenig ablenkt?

Wie einsam muss jemand sein, der die Gesellschaft eines Toten braucht, um glücklich zu sein!?

Doch ich komme zu keinem Schluss, denn sie scheint all das als völlig normal zu empfinden. Jedenfalls höre, spüre und sehe ich bei ihrer ganzen Trauer auch immer ein sanftes und zufriedenes Lächeln in jeder Äußerung.

Und da haben wir tatsächlich schon die Haltstelle Südfriedhof erreicht und sie steht wieder an der vorderen Tür und ist zum Aussteigen bereit.

Diese Fahrt verging jetzt aber schnell.

»Kümmern sie sich weiter gut um ihre Eltern. Bitte«, gemahnt sie mich beim Hinausgehen.

»Das werde ich tun«, gebe ich ihr mein Versprechen. »Und sie sagen bitte ihrem Gatten nette Grüße von mir.«