Boulevard of Broken Dreams



Jetzt ist es passiert … tatsächlich … ich kann es kaum glauben …

Ich hatte ja gehofft, dass dieser Moment ein bisschen später kommen oder es ihn bestenfalls nie geben würde …

Ich hatte wirklich inständig gehofft, dass dieser Kelch, der für mich schon fast einem Trog gleichkommt, an mir vorbeiziehen möge …

Auch wurde ich vielfach gewarnt, dass auch ich diesem Schicksal kaum entkommen könne …

Von allen … von allen, denen diese Lektion auch schon widerfahren ist … und das ist ja eigentlich jeder … na ja, so gut wie jeder …

Phhh … jetzt muss ich erstmal tief durchatmen …

Also: Alles ist zuerst in Ordnung an diesem Dienstag … diesem Dienstag, der den letzten Tag im Sommer des Jahres markiert … und der so einiges verändert …

Denn nun bin ich einer von vielen … nun gehöre ich dazu … denn jetzt und hier, an diesem Dienstag verliere ich meine Unschuld … in diesem einen Moment an einem der letzten sonnigen Nachmittage …

Na ja, es ist nicht anders … und doch ist es schade ...

Aber der Reihe nach:

Mein Weg führt mich an diesem Dienstag über eine kurze Standzeit an der Stadtgrenze in Richtung des Knotenpunkts Maximilianstraße, der von der U-Bahn und mehreren Buslinien angefahren wird.

Alles läuft bestens bisher. Die Sonne scheint mir das eine oder andere Mal intensiv in die Augen, aber ich genieße nach diesem doch etwas feuchteren Sommer auch ihre wärmenden Strahlen. Allgemein hatte man sich ja schon fast auf Herbst eingestellt. Und in nicht mal vier Monaten ist auch schon wieder Weihnachten vorbei … die Zeit rast gefühlt so …

Egal … ich habe den Bus um halb drei übernommen und muss bei dieser Runde noch einen kleinen Bogen extra fahren. Er führt mich über die Dorfäckerstraße, in der eine Werkstätte von Noris-Inklusion für Menschen mit Behinderung speziell angepasste Arbeitsplätze bereitstellt. Am Morgen fahren wir sie mit dieser kurzen 'Ehrenrunde' einmal hin und in zwei Schüben, mittags und nachmittags, holen wir sie wieder von dort ab.

Hinter mir im Bus ist dadurch einiges los. Diese besonderen Menschen sind so angenehm unkompliziert. Alle grüßen immer freundlich und gefühlt, nein, mit Sicherheit ohne irgendwelche Hintergedanken. Sie unterhalten sich laut darüber, wie jeder seinen Tag heute fortsetzen, was es zum Abendessen geben und wann ihre Arbeit am nächsten Tag wieder beginnen würde. Und sogar Fußball ist ein Thema. Die Stimmung ist wie immer wohltuend gelöst, heiter und freundlich. Jeder ist stolz auf das an diesem Tag Erreichte und in ihren zufriedenen Gesichtern klar und deutlich ablesbar.

Ein bisschen lasse ich mich von der guten Laune meiner Fahrgäste anstecken und lächle hinter dem Lenkrad still in mich hinein. In solchen Momenten werden die Gesichtsmuskeln in kürzester Zeit wieder auf 'entspannt' ausgerichtet, das kann ich euch sagen.

Als wir am West-Friedhof nach rechts abbiegen und in die anschließende Haltestelle rollen, ziehen aber wieder kurzfristig Gewitterwolken über mein Gesicht. Denn vor uns taucht ein Stau auf. Der würde sich sicher von hier bis fast zur Maximilianstraße hinziehen, die unser aller Ziel war … Sowas Doofes … Aber gut, es ist ja mittlerweile schon halb vier und trotz der Ferien setzt gerade der alltägliche Feierabendverkehr ein. Alles soweit normal, denn so erwartbar.

Doch erfreulicherweise führt hier ein altes Straßenbahngleis in der Mitte zwischen den Fahrspuren entlang. Und da dieses als solches schon seit Längerem nicht mehr genutzt wird, ist es für uns Busfahrer provisorisch zubetoniert worden. Auf diese Weise haben wir hier bei starkem Verkehr, oder sogar Stau wie in diesem Falle, eine dritte Spur in Richtung Maximilianstraße als Ausweichmöglichkeit für uns ganz allein.

Eine Haltestelle liegt noch vor uns und im Anschluss daran kann ich auf diesen speziellen Fahrdamm wechseln. Und wenn ich hier sage speziellen, dann meine ich auch speziellen. Denn trotz aller Vorteile: Es hat darüber hinaus Nachteile, diese Spur zu nutzen. Unsere Fahrgäste werden immer ganz ordentlich durchgeschüttelt, weil der Fahrdamm an den meisten Stellen doch ein bisschen einem Provisorium gleicht. Die alten Straßenbahngleise hat man größtenteils unterhalb des Betons in ihrem Bett liegen lassen und bei der häufigen Benutzung ist es so wie überall im Straßenverkehr:

Der eine oder andere kalte Winter bricht den Untergrund auf, Wasser sickert ein, und im Ende sprengt es durch die Kälte wiederholt gefrierend die Fahrbahn auf. Dazu rumpeln wir zusätzlich mit unseren mindestens zwölf, und mittlerweile durch die E-Busse, bis zu dreißig Tonnen schweren Fahrgeräten darüber. Und mit den massiven Rädern helfen wir so auf intensive und unnachgiebige Art mit, die mürbe Unterlage stückweise zu zerkleinern. So bilden sich Schäden in Form von Mulden und Fahrrillen.

Aber gut, wenn man zu ein bisschen Slalom bereit ist und immer wieder etwa einen halben Meter nach links oder rechts ausweicht, geht es schon in Ordnung. Man sollte eben nur nicht da fahren, wo alle fahren.

Klarer Vorteil dieser Trasse ist aber, dass man ungeschoren und ohne Zeitverlust am Stau vorbeikommt. Auch wenn man auf dem Fahrweg nicht die innerstädtische Höchstgeschwindigkeit fahren kann, sondern sich eher so mit fünfundzwanzig ka-em-ha dahinschleppt. Doch dafür ist die Strecke immer frei. Und ich muss am Ende nur noch nach rechts hinüberwechseln. Unglaublich praktisch das ist.

Nur heute nicht …

Drei Ampeln bis zur Kreuzung:

Hier nutzen wir Busfahrer das sogenannte Permissiv-Signal, das zu den Blocksignalen für den ÖPNV gehört. Damit sind wir befugt, schon VOR der eigentlichen Grünphase des Individualverkehrs loszufahren. Aber hier sollte man sich trotzdem beeilen, weil die anderen auch recht schnell grün bekommen und sie dann meinen Weg kreuzen könnten. So muss sich das immer bei einem Start Formel-Eins-Rennen anfühlen. Alle warten gespannt, bis die Ampel umschaltet. Doch heute habe ich keine Vordrängler neben mir. Also weiter geht's geradeaus …

Zwei Ampeln bis zur Kreuzung:

Auch hier gibt es ein Permissiv-Signal. Aber durch den Stau auf den Spuren neben mir ist alles so blockiert, dass ich auch an dieser Stelle nicht nach rechts hinüberwechseln kann. Obwohl ich hier im Normalfall durch einen etwas verlängerten Vorlauf mehr Zeit dafür hätte … tja … also nochmal weiter geradeaus …

Dann eben an der dritten und letzten Ampel:

'An der werde ich problemlos meinen Weg nach rechts nehmen können', denke ich so bei mir. Ich kann den freien Weg vor mit sehen … und auch die Möglichkeit … und hinten im Bus stehen die Fahrgäste schon alle und sind zum Aussteigen bereit, weil diese Haltestelle für sie das Ende ihrer Reise mit mir bedeutet …

… aber da ist irgendetwas …  ich bemerke es im Augenwinkel … es ist zuerst nur eine minimale Bewegung … gleich rechts vor mir lenkt der Fahrer nach links ein … zunächst nur leicht … nein … der wird doch nicht … dann schlägt er voll ein und gibt Gas … genau vor meinem Bus will er drehen … ja ist denn der … was? …

Ich versuche zu bremsen und gleichzeitig noch nach links auszuweichen …
Aber es nutzt nichts: Es rumpelt … es knirscht … eine Scheibe zersplittert in Millionen Teile … die Macht der Trägheit von Masse zieht mich über das Lenkrad und einige meiner Fahrgäste an- und übereinander … und dann stehen wir …

Und so ist es passiert … auf diese Weise, unspektakulär, aber unvermeidbar, verliere ich an diesem Tag meine Unschuld …

Deshalb hat die Trasse an ebendiesem Dienstag von mir einen passenden Beinamen bekommen:

Sie heißt nun so, wie ich dieses Kapitels genannt habe:

'Boulevard of Broken Dreams'

Die Straße der zerbrochenen Träume.

Aber ihr müsst euch keine Gedanken machen, denn es ist glücklicherweise nichts Schlimmes passiert:

Am Bus waren lediglich Kratzspuren zu sehen. Beim anderen Wagen habe ich die Fahrertür leicht eingedrückt.

Eine ältere Frau hat sich beim Abfangen an einer der Haltestangen nur das Handgelenk verstaucht.

Die Millionen Teile des Glases entstammten einer Trennscheibe rechts hinter meinem Arbeitsplatz, die wohl etwas unter Überspannung litt. Dadurch habe ich kleine Schnittwunden an der linken (?) Hand durch die Splitter davongetragen.

Und bis auf die vielleicht seelischen Schäden bei meinem 'Unfallgegner' ist es mir bei allen anderen zumindest möglich, sie unversehrt aus meinem Bus zu 'retten' und in den wohlverdienten Feierabend zu entlassen.